Herbst

Liebe WegbegleiterInnen,

Erntedankfeste haben mich daran erinnert, dass ich als Kind eifrig unseren
großen Kürbis in die Kirche getragen habe, wo die Früchte des Herbstes sich vor
dem Altar türmten. Ich empfand es als das schönste kirchliche Fest,
wahrscheinlich weil wir aus unserem Garten die beeindruckendste Frucht als Gabe
bringen konnten. Schön waren auch die kräftigen Farben der Äpfel, Pflaumen und
der Gemüsesorten, die alle als Dank und Geschenk dargebracht wurden. Tiefen
Eindruck machte auf mich die Fülle und die Gebefreudigkeit und darüber hinaus
die fröhliche Gemeinsamkeit.

Jetzt ist die Fülle der Früchte keine Besonderheit mehr, kein Grund zu großer
Freude; sie hat einfach da zu sein!

Merken wir überhaupt noch, dass der Herbst die Zeit der Ernte ist; die Zeit der
Fülle?

Ob Sommer oder Winter, ob Frühling oder Herbst, zu jeder Zeit und in jedem
Geschäft liegen Gemüse und alle Früchte zum Kauf aus, die in der Natur nur im
Herbst geerntet werden. Wir sind es gewohnt, nehmen es als selbstverständlich
hin.

Aber werden wir nicht beraubt des Gefühls der Fülle und auch der Leere, der
Entbehrung? Unser Anspruch geht dahin, immer alles zu haben – und die
Produzenten und Kaufleute sind darauf bedacht, alle Wünsche zu erfüllen. Angebot
und Nachfrage, oder Nachfrage und Angebot? Ist uns klar, dass wir in einem noch
nie da gewesenem Luxus leben – und dass wir immer noch mehr, noch Besseres haben
wollen?

Nicht, dass gegen die Vielfalt und Fülle etwas einzuwenden wäre, – nur gegen die
Forderung, dass sie stets und vollständig zur Verfügung stehen muss.

Macht das Überangebot unser Leben nicht langweilig, weil wir des Vielen und des
mehr oder weniger leicht Erreichbaren überdrüssig werden? Es verliert an Reiz,
an Herausforderung! Zeiten der „Leere“, der Entbehrung scheinen ihre
Berechtigung im Dasein zu haben. Sie fordern Einschränkung und Bescheidung vom
Einzelnen wie auch von kleinen oder großen Gemeinschaften heraus. Das Wenige
muss man teilen

mit anderen; man muss achtsam und weise damit umgehen – und man muss verzichten,
d.h. viel haben wollen loslassen.

Sicherlich wird es als Fortschritt gewertet, dass Wissenschaft und Technik es
möglich machen unendlich viele Produkte herzustellen. Ist das auch als
menschliche Entwicklung anzusehen? Werden wir durch das Viele und Exzentrische
bessere Menschen? Sind wir zufriedener als unsere Vorfahren, die nur ein
Bruchteil unserer „Luxuswaren“ hatten und auch bescheidener essen mussten? Sie
übten die Kraft der Zurückhaltung, zum Einen weil nicht so viel zur Verfügung
stand – zum anderen wurde Sparsamkeit und Einfachheit als Tugend angesehen. Und
wenn ein Fest gefeiert wurde, genoss man die Fülle mit großer Dankbarkeit.

Die Zeit der Fülle und die Zeit der Leere überschneiden sich im Herbst

Der Herbst schenkt uns Früchte in Fülle, die wir dankbar genießen können.

Nach der Ernte stehen die Bäume, Weinstöcke und Gärten kahl da, die Felder sind
braun und dunkel; die fröhliche, bunte Vielheit ist dahin. Jetzt kommt die Zeit
des Rückzugs, des weisen inneren Verwahrens der Säfte und Kräfte in Verzicht auf
äußere Schönheit.

Was könnte die Entsprechung in unseren menschlichen Lebensbereichen sein?

Mehr Gewicht auf unsere inneren Bedürfnisse und Werte zu legen als auf äußere
Sinnesgelüste und Ablenkungen? Beschränkung auf das Wesentliche? Verzicht auf
süchtiges Haben- und Erreichen – Wollen? Auf Hektik und Stress?

Das innere Stagnieren kann durch noch so große äußere Betriebsamkeit nicht
aufgehoben werden. Besinnung und Ruhe sind notwendig, um innere Blockaden wieder
ins Fließen zu bringen.

Rufen wir unsere Fähigkeiten auf, Lebensnahes Fühlen und Mitfühlen mit anderen
zu üben und zu kultivieren – – – und wir sind wieder in unserer Mitte – in der
Mitte des Lebens!

An Fesseln haften; Ketten fassen,

Im Geist gefangen – um Lebenssinn bangen.

Nur heldenhaft lassen!

Fallenlassen zur rechten Zeit

Wie Laub im Herbst bereit!

Und dein Atem wird weit!

Drück in der Faust die Luft nicht ein –

Du blockierst deine Seele,

dein Atem wird klein –

Öffne dein Herz, deine Hand –

Lebe frei und gelöst wie rieselnder Sand.

Herzlich Eure Ursula

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