Das Wort „unvollkommen“ bedeutet, dass etwas noch nicht fertig ist, dass es Fehler an der Aufgabe gibt und Schwächen, die beseitigt werden müssen. Das vollkommen Fehlerfreie wird direkt oder indirekt von uns selbst als Perfektion verlangt.
Sobald wir eine Aufgabe fehlerfrei bewältigt haben, ändert sich etwas durch verschiedene Ansichten oder einfach durch die Zeit und ist plötzlich nicht mehr perfekt. Das Phänomen der Unbeständigkeit und Veränderung verursacht wieder Schwächen im Anspruch an Perfektion.
Unvollkommenes wird abgelehnt, weil es nicht gut genug ist oder einfach noch nicht fertig ist. Bei Künstlern finden wir den Drang nach Vollkommenheit in starkem Maße – aber auch in uns selbst spüren wir das große Verlangen nach absolutem Gut-Sein. Wir strengen uns an, um unsere Arbeit wie auch unsere Beziehungen bestens zu schaffen und hoffen, dass die Menschen um uns herum unsere Bemühungen und unsere guten Resultate auch zu schätzen wissen. Da dies in dem erwünschten Maße nicht geschieht, fühlen wir uns oftmals nicht anerkannt, unterbewertet oder sogar nicht einmal gesehen.
Das Ergebnis ist Leiden!
Seit 40 Jahren bin ich eine Verfechterin der Unvollkommenheit in unserer perfektionssüchtigen westlichen Welt. Damit sage ich keinesfalls, dass ich schlampiges und träges Arbeiten und Verhalten gut finde oder sogar lobe, sondern dass ein wirkliches Verstehen der Unvollkommenheit uns den Zwang nimmt, Alles 100 % ig richtig machen zu müssen.
Die Unvollkommenheit ist ein Naturgesetz. Warum?
Weil die Natur vom ständigen Wechsel lebt.
In jeder Phase des Daseins von einer Pflanze ist schon die Weiterentwicklung angelegt und so kommt es, dass die Schönheit wunderbarer Blumen und die Frische gesunden Gemüses nie lange anhalten und das Schöne und Gute sich in Hässlichkeit und Gift verwandelt. Weil wir das gewohnt sind und wissen, dass wir an dem natürlichen Ablauf nicht viel ändern können, nehmen wir das als ein Naturgesetz hin.
Unangenehmer empfinden wir unsere körperliche und geistige Fehlerhaftigkeit da sie uns so direkt vor Augen ist und uns Ärger, Schmerz und Traurigkeit bereitet. Diese Defizite sind lebensbedingend bei jedem Menschen vorhanden, (altern, krank werden und sterben) nur wollen wir davon nichts wissen und streben mit allen Mitteln nach bleibender Perfektion.
Wir kommen in ein Dilemma:
Einerseits Weiterentwicklung – Ja!
andererseits Perfektionszwang – Nein!
Wie kann man beides verbinden?
Wenn wir bei unseren Entscheidungen mögliche Schwächen mit einbeziehen, werden wir der Wahrhaftigkeit zukünftiger Geschehen gerecht. Wenn wir bei unserem Tun Lücken und Fehler feststellen und diese nicht als Rückschläge ansehen, die uns niederdrücken und unsere Unfähigkeit beweisen, dann können diese Fehler unsere Erfindungsmöglichkeit zum Besser-Machen anregen.
Positive Wirkungen der Unvollkommenheit:
- Unvollkommenheiten zulassen schützt uns vor Überforderung, “burn out“, Stress!
- Perfektion zu erreichen und zu erhalten ist eine Illusion. Perfektion als etwas Fertiges, Abgeschlossenes hat keine Lebendigkeit mehr – sie ist tot! Unvollkommenheit heißt Leben!
- Das Erkennen und Zulassen der Unvollkommenheiten macht uns bescheiden und demütig. Wir können uns am Kleinen und am Momentanen erfreuen.
- Schwächen und Fehler bei sich selbst und bei anderen zu akzeptieren, lässt Mitgefühl und Güte entstehen.
- Fehler und Schwierigkeiten gut zu erkennen, regt eigene Kreativität zum Verbessern und Entwickeln an, anstatt nur nach Schuldigen zu suchen.
- Hilfe anbieten, wo Unheil geschieht, wo wir Not sehen. Wir erfahren in den gemeinsamen Schwächen die Verbindung aller Lebewesen auf der Erde.
In der buddhistischen Lehre heißt die Unvollkommenheit DUKKHA.
Sehe ich Dukkha als Leid – – – oder als Lehrer?
Herzlich grüßt Euch bei frühlingshaften Temperaturen
die alte Ursula